Über die Geschichte von FreiFrau

FreiFrau wurde von Carola von Seckendorff und Cornelia Kupferschmid als GbR 2015 anlässlich der Entstehung ihres Stückes MutterHabenSein gegründet. FreiFrau arbeitet hierarchiefrei in wechselnden Teams und Kooperationen. Menschen unterschiedlichen Alters, sozialen Standes, Herkunft, unterschiedlichster Kulturbereiche werden im Rahmen einer künstlerischen Auseinandersetzung mit einem Thema hoher gesellschaftlicher Relevanz zusammengebracht. Die Arbeiten basieren auf langwierigen Vorbereitungs- und Recherchephasen, auf Mitwirkenden, die sich entweder als „Expert:innen des Alltags“ oder als Darsteller:innen mit der jeweiligen Thematik identifizieren und auf einem interdisziplinären Team, das auf Augenhöhe miteinander an dem jeweiligen Projekt arbeitet. Die Themen werden u.a. anhand persönlicher Geschichten generiert, collagenartig dramatisiert und theatral aufbereitet. Im Vordergrund steht das Aufspüren kollektiver Erfahrungshorizonte, über die Nähe zum Publikum direkt und sinnlich erfahrbar gemacht. Ein gemeinsamer „Erlebnisraum“, der die Fokussierung des Themas unterstützt, vereint Darsteller:innen und Zuschauer:innen, stellt eine Verbindung zwischen den Themen und den Anwesenden her.

Die erste Arbeit dieser Art war Gefangene besuchen (2006, im Rahmen des Großprojektes Kultur der Barmherzigkeit der Städtischen Bühnen Münster) mit Schauspieler:innen und ehemaligen Strafgefangenen. Mit Fetter Fisch – Performance / Theater erarbeitete Carola von Seckendorff 2011 Eine Stunde im Paradies für Kinder ab 8 zum Thema Geschlechteridentität, Liebe und Sexualität, auf Basis von Interviews mit Kindern im Zielgruppenalter und mit dem Fokus auf dem Wissen, den Erfahrungen und den Vorstellungen der Kinder. Am Theater Münster entstand 2014 das Rechercheprojekt Trans* eine Identitätserweiterung mit „Expert:innen des Alltags“ und Schauspieler:innen, welches sich mit den Lebensgeschichten transidenter Menschen und deren Sehnsucht nach einem normalen, unauffälligen Leben auseinandersetzte. Trans* lief für ein Jahr und war durchweg ausverkauft. Das biographische Vexierspiel „MutterHabenSein. und denk. sie lebt und siehet dich.“ verlagerte den Begegnungsraum in ein verhältnismäßig kleines Lokal. Die Darstellerinnen sind unter den Zuschauern, wechseln die Plätze, erspielen sich die eigenen Lebensgeschichten, zeichnen Lebenslinien, die zu einer kollektiven Frauen- und Mütterbiografie anwachsen und zur allgemeingültigen Kenntlichkeit „verfremdet“ werden. Dieser „Klassiker“ (Westfälische Nachrichten) hat nun bereits über 100 Vorstellungen hinter sich und war 2019 auf das FRINGE Festival der Ruhrfestspiele Recklinghausen eingeladen.

Eine weitere Produktion war MenschMünsterMensch, welche im April 2017 im Kammertheater „Der Kleine Bühnenboden“ seine Premiere feierte und darin bestand, Bürger:innen Münsters auf die Bühne zu holen und live eine persönliche Geschichte erzählen zu lassen. Umrahmt wurden diese Geschichten von thematisch zugeordneter Musik unterschiedlicher Münsteraner Musiker:innen und unaufwändig, spielerischen, die Erzähler:innen unterstützenden Moderationen. Es entstanden sechs ausverkaufte höchst berührende Abende.

Im Herbst 2018 wanderte das Theaterübergreifende Stadtprojekt 24 Stunden Münster durch alle Theaterhäuser Münsters. Erstmals in der Münsteraner Theatergeschichte fand ein wahrlich ganztägiges Bühnenereignis statt, an dem alle Theaterhäuser und die freie Szene beteiligt waren. Unter der Schirmherrschaft von Leonard Lansink alias Wilsberg und dem ehem. Chefredakteur des Spiegel Klaus Brinkbäumer wurde an fünf Tagen jeweils eine Bühne 24 Stunden lang bespielt. 24 Stunden Münster erzählte aus außergewöhnlichen Perspektiven, zoomte sich mit künstlerischer Energie in die Eingeweide dieser Stadt, präsentierte ihr menschliches Potenzial und stellte sich der Frage: Was zeichnet sie eigentlich aus, diese, unsere Stadt? Wer sind sie, diese Menschen, die in ihr leben? Und was passiert, wenn man den Lack der pittoresken Fassade abkratzt und schaut, was sich dahinter verbirgt? So entstand in einem 24-stündiges Kaleidoskop eine neue, überraschende, verstörende, vielleicht nie wahrgenommene Wirklichkeit Münsters. 24 Stunden Münster, bedeutete am Stück über 24 verschiedene Theaterstücke und Geschichten, präsentiert von über 50 verschiedenen Theaterakteuren an der Schnittstelle von Performance, menschlicher Installation, Recherche- und Dokumentationsprojekt sowie Sprechtheater: über 24-mal pralles Bühnengeschehen.

Das aus 24 Stunden Münster hervorgegangene Stadtensemble kam dann im Mai 2019 während POETRY2019 innerhalb des Lyrikertreffens erweitert erneut zusammen zu ich hörte sagen, einem „poetischen Antiterroranschlag“ in Münsters Innenstadt: Es begab sich jeweils unerkannt, nicht als Spieler:in erkenntlich, innerhalb einer zeitlichen Spanne von 2 Stunden auf einen poetischen Parcours durch den öffentlichen Raum: Fußgängerzone, Kaufhaus, Café, öffentliche Toilette, Supermarkt, Bushaltestelle, Bus, etc. Jeder „bewaffnet“ mit einer Handvoll poetischer Zeilen von der lyrischen Naturbetrachtung bis hin zu Dada ähnlichen Sprachspielereien. Die Spieler:innen suchten diese öffentlichen Orte auf, mischten sich unters Volk, allein oder in kleinen Gruppen, setzten sich im Café an Tische zu anderen Cafébesucher:innen, warteten scheinbar auf den Bus, probierten Schuhe an, kauften bei Rewe ein, besuchten eine Kirche, saßen an einem Brunnen, o.ä. und jeweils unerwartet begannen sie mit Poesie ihre nächste Umgebung zu verzaubern, zu irritieren, zum Aufhorchen zu animieren und letztlich einzuladen für einen Moment aus dem Alltag auszusteigen, Kontakt herzustellen, Begegnung zu ermöglichen, hinter den Alltagshorizont zu blicken, bzw. zu lauschen.